Otto Bauer

Integraler Sozialismus

Seit dem Zusammenbruch der deutschen Sozialdemokratie sind die britische Labour Party, die bolschewistische Partei der Sowjetunion und die französische Sozialistische Partei die drei stärksten Parteien der sozialistischen Arbeiterbewegung in der Welt. Die britische Labour Party ist die reinste Verkörperung des Reformismus. Die bolschewistische Partei der Sowjetunion ist das Haupt des revolutionären Kommunismus. Die französische Sozialistische Partei steht zwischen beiden in der Mitte.

Die französischen Gewerkschaften haben sich vor dem Kriege unter dem Einfluß des revolutionären Syndikalismus entwickelt. Sie entwickelten sich unabhängig von der Sozialistischen Partei. Die französische Sozialistische Partei ist daher niemals zu einer solchen Massenorganisation geworden wie die englische Labour Party und wie die sozialdemokratischen Parteien Mitteleuropas. Ihre Ideologie und ihre Taktik sind niemals in gleichem Maße unter den Einfluß von Massen geraten, die zur sozialistischen Bewegung stoßen, um schnelle Erfolge im Kampfe um ihre Gegenwartsinteressen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu erringen. Sie ist immer eine engere Gesinnungsgemeinschaft zielbewußter Sozialisten geblieben, die innerhalb der Arbeiterklasse wirkt, die Arbeiterklasse zu führen sucht, aber die Massen der Arbeiter nie in ihren Organisationen zu vereinigen vermochte. Gerade deshalb ist sie niemals dem Reformismus so vollständig erlegen wie die eng mit den Gewerkschaften verbundenen Massenorganisationen der mitteleuropäischen Sozialdemokratie oder die auf die Gewerkschaften gestützte Labour Party. Wohl wirken in ihr die Traditionen ihrer Kämpfe auf dem Boden der Demokratie der Dritten Republik fort, aber mit ihnen verbunden die großen revolutionären Traditionen der französischen Nation. Wohl wirkt in ihr der Reformismus Jaures nach, aber auch der Marxismus Guesdes und Lafargues, der Blanquismus Vaillants. Der Mechanismus der französischen parlamentarischen Demokratie hat von ihr immer wieder reformistische Gruppen nach rechts abgespalten und dadurch die Vorherrschaft revolutionär-sozialistischer Ideologien in ihren Reihen gestärkt. Die Abspaltung der Neosozialisten einerseits, die Aktionsgemeinschaft mit den Kommunisten andererseits hat diese Entwicklung gefördert. In der Ideologie der französischen Sozialistischen Partei gibt es unzweifelhaft starke und entwicklungsfähige Ansätze zu einer Konzeption, die sich über den Gegensatz zwischen Reformismus und Bolschewismus erhebt.

Entwicklungsansätze verwandten Charakters gibt es in den sozialistischen Parteien der faschistischen Länder. Ihre Kaders sind aus den besiegten und zertrümmerten reformistisch-demokratischen Massenparteien hervorgegangen. Aber sie sind durch die Niederlage dieser Parteien revolutioniert, unter dem Terror des Faschismus zu revolutionärem Kampf gezwungen. In ihnen verknüpfen sich die Traditionen der demokratisch-reformistischen Entwicklungsstufe mit neuen revolutionären Methoden und Zielsetzungen.

Endlich stehen zwischen den beiden Internationalen kleine Gruppen, die sich teils, wie die deutsche Sozialistische Arbeiterpartei, von der Sozialdemokratie nach links, teils von der Kommunistischen Internationale nach rechts abgesplittert haben. Auch sie ringen um eine Konzeption, die die erstarrten Dogmen der beiden großen Heerlager des internationalen Sozialismus in sich überwinden soll.

Diese mannigfachen Ansätze zu einer einheitlichen Theorie und Politik des Sozialismus zu entwickeln, die integrieren soll. was der Weltkrieg und seine Wirkungen differenziert haben, ist die Aufgabe. Ich nenne die einheitliche Konzeption, die die Spaltung des Wettprotetariats überwinden soll, die Konzeption des integralen Sozialismus. Mit dieser Bezeichnung will ich aber keineswegs an jene Richtung des italienischen Sozialismus der vorfaschistischen Zeit anknüpfen, die sich als integralistisch bezeichnet hat. Der integrale Sozialismus unserer Zeit kann nur aus den Problemen unserer Zeit entwickelt werden.

Wir sehen auf der einen Seite die großen Massenbewegungen der Arbeiter: die britische Arbeiterpartei, die erfolgreichen sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften der skandinavischen Länder, Belgiens, der Niederlande, die Gewerkschaften der Vereinigten Staaten, die Arbeiterparteien Australiens, - alle diese großen Massenbewegungen der Arbeiterklasse sind demokratisch und reformistisch. Wir sehen auf der anderen Seite zielbewußtes Ringen um eine sozialistische Gesellschaftsordnung, das sich in der Sowjetunion realisiert, das die revolutionären sozialistischen Kaders in den faschistischen Ländern beherrscht, das in den sozialistischen Massenbewegungen Frankreichs und Spaniens wirkt, das die revolutionäre Bewegung im Fernen Osten beeinflußt. Das Verhältnis zwischen der reformistischen Klassenbewegung und dem zielbewußten Sozialismus ist das Problem, von dem jedes Ringen um die Entwicklung eines integralen internationalen Sozialismus ausgehen muß.

Marx und Engels haben den Gegensatz zwischen der Arbeiterbewegung und dem Sozialismus, der in der Zeit der bürgerlichen Revolution bestand, überwunden. Ihre Erkenntnis hat die Arbeiterbewegung gelehrt, daß ihr Ziel die sozialistische Gesellschaftsordnung sein muß. Ihre Lehre hat die Sozialisten gelehrt, daß die sozialistische Gesellschaftsordnung nur das Ergebnis der Klassenkämpfe der Arbeiterklasse sein kann. Aber der Gegensatz zwischen der Arbeiterbewegung und dem Sozialismus ist damit nicht ein für allemal überwunden worden. Die besondere Leistung des Marxismus, die Vereinigung der Bewegung der Arbeiterklasse mit dem Kampf um eine sozialistische Gesellschaftsordnung, muß vielmehr immer wieder, in jeder Phase der Entwicklung der Klassenkämpfe von neuem vollbracht werden.

Die Arbeiterklasse kämpft immer und überall zunächst um ihre unmittelbaren Tagesinteressen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Der zielbewußte Sozialismus kämpft um die sozialistische Gesellschaftsordnung. In allen Phasen der Entwicklung der Klassenkämpfe der Arbeiterklasse besteht eine Spannung zwischen den Massen, die um die Befriedigung ihrer unmittelbaren Tagesinteressen kämpfen, und den zielbewußten Sozialisten, denen der Kampf um die unmittelbaren Tagesinteressen der Arbeiterklasse nicht Selbstzweck, sondern nur eine Phase in dem Kampf um die sozialistische Gesellschaftsordnung, ein Mittel des Kampfes um die sozialistische Gesellschaftsordnung ist. Die Überwindung dieser immer wieder erstehenden Spannung ist die geschichtliche Funktion des Marxismus, dessen geschichtliche Leistung und Aufgabe eben die Vereinigung der Arbeiterbewegung mit dem Sozialismus war und ist.

Auf dem Boden der bürgerlichen Demokratie nützt die Arbeiterklasse die demokratischen Rechte und Institutionen aus, um sich eine höhere Lebenshaltung, mehr sozialen Schutz, mehr Kultur zu erringen. In Perioden großer Erfolge glaubt sie zeitweilig, sie könne auf diesem Wege allmählich den Kapitalismus "aushöhlen", sich einer sozialistischen Gesellschaftsordnung nahem. Im gewerkschaftlichen und im parlamentarischen Kampfe bringt sie eine Führerschicht hervor, die ganz in den Tageskämpfen um höhere Löhne, um wirksameren sozialen Schutz aufgeht, die objektiven Schranken, die der Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise den Tagesaufgaben der Arbeiterklasse setzt, verkennt und sich eine andere Kampfmethode der Arbeiterklasse als die ihr gewohnte, ihr vertraute, die, der sie selbst angepaßt ist, nicht vorzustellen vermag. Ihr setzen zielbewußte Sozialisten die Erkenntnis entgegen, daß die kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht durch die allmähliche Umgestaltung von einer Reform zur anderen überwunden, die sozialistische Gesellschaftsordnung nur durch revolutionären Bruch erobert werden kann. Die Spannung zwischen der Arbeiterbewegung und dem Sozialismus drückt sich in dieser Entwicklungsphase in dem Gegensatz zwischen reformistischem und revolutionärem Sozialismus aus.

Wo der Faschismus gesiegt hat, wo der Arbeiterklasse alle gesetzlichen Kampfmittel entrissen sind und sie darum nur noch mit revolutionären Mitteln kämpfen kann, scheint dieser Gegensatz überwunden zu sein. Aber in Wirklichkeit lebt er unter der Decke der revolutionären Zielsetzung weiter. Dem einen erscheint die Revolution gegen den Faschismus nur als Mittel, der Arbeiterklasse die Freiheit des Kampfes um ihre Tagesinteressen wiederzu-erobern; dem ändern ist die Revolution gegen den Faschismus das Mittel, die Macht zu erobern, um die sozialistische Gesellschaftsordnung zu verwirklichen.

Ja, selbst dort, wo das Proletariat schon seine Diktatur aufgerichtet hat und die Gesellschaftsordnung bereits umwälzt, wirkt der alte Gegensatz nach. Den einen handelt es sich darum, die soziale Umwälzung mit möglichst geringen Opfern der Arbeitermassen zu erkaufen und durch sie die Lebenshaltung der Arbeitermassen möglichst schnell zu heben. Den anderen ist es vor allem um die möglichst schnelle und möglichst vollständige Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu tun, mag sie auch mit noch so schweren Opfern der Arbeiterklasse erkauft werden müssen; erst wenn der soziale Umwälzungsprozeß weit genug gediehen und gegen alle Rückschläge im Innern, gegen alle Angriffe von außen hinreichend gesichert ist, sollen die Arbeitenden seine Früchte ernten. Die Geschichte der Fraktionskämpfe innerhalb des russischen Bolschewismus und die Geschichte der Wandlungen des Verhältnisses der Sowjetdiktatur zu den Arbeitermassen der Sowjetunion sind reich an Beispielen dieser auch noch unter der Diktatur fortbestehenden Spannung.

Die Spannung zwischen der Arbeiterbewegung und dem Sozialismus hat ihre Ursache darin, daß die Arbeiterklasse einerseits eine Klasse der kapitalistischen Gesellschaft ist, die ebensowenig wie alle anderen Klassen der kapitalistischen Gesellschaft darauf verzichten kann, ihre Klasseninteressen innerhalb dieser Gesellschaft zu verfechten, andererseits aber diejenige Klasse der kapitalistischen Gesellschaft ist, deren schließliche Befreiung nur durch die Zertrümmerung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, durch die Eroberung einer sozialistischen Gesellschaft erkämpft werden kann. Weil die Arbeiterklasse immer darum ringt und ringen muß, ihre Lage innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu verbessern, gerät die Arbeiterbewegung in Spannung zu den zielbewußten Sozialisten, denen es nicht um die Einzelkämpfe innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, sondern um den Gesamtkampf gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu tun ist. Weil aber die kapitalistische Gesellschaftsordnung nur durch die kämpfende Arbeiterklasse überwunden, die sozialistische Gesellschaftsordnung nur von ihr erkämpft und aufgebaut werden kann, muß diese Spannung immer wieder überwunden werden.

Der reformistische Sozialismus ist aber nichts anderes als die unvermeidliche Ideologie der Arbeiterbewegung auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung; auf jener Entwicklungsstufe, auf der die Arbeiterklasse zwar noch nicht stark genug ist, die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu stürzen, wohl aber stark genug, die demokratischen Institutionen erfolgreich für ihre Kämpfe um die Hebung ihrer Lebenshaltung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung auszunützen. Wie die Spannung zwischen der Arbeiterbewegung und dem Sozialismus überhaupt, so muß also auf dieser Entwicklungsstufe auch die Spannung zwischen reformistischem und revolutionärem Sozialismus unvermeidlich immer wieder erstehen und unvermeidlich immer wieder überwunden werden.

Wir haben gesehen, wie die Resultate der Weltkrise, die der Kapitalismus seit dem Jahre 1929 durchgemacht hat, die ökonomischen und die politischen Kampfbedingungen der Arbeiterklasse differenziert haben. Es gibt Länder, in denen die Möglichkeiten erfolgreichen Kampfes innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung wieder erstehen und damit auch alle reformistischen Ideologien sich behaupten und erstarken, und andere Länder, in denen die ökonomische und die politische Unmöglichkeit, erfolgreiche Kämpfe innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu führen, die Arbeiterklasse zur Revolution gegen die herrschende Staats- und Gesellschaftsordnung treibt. Der Gegensatz zwischen der reformistischen Arbeiterbewegung und dem revolutionären Sozialismus besteht daher fort und wird fortbestehen. Aber die Notwendigkeit, die Kräfte der Arbeiterklasse zum Kampfe gegen den Faschismus und gegen den Krieg zu vereinigen, die Wahrscheinlichkeit, daß in nicht femer Zeit ein neuer Weltkrieg die Weitentscheidung zwischen Kapitalismus und Sozialismus zur unmittelbaren Aufgabe der Geschichte machen wird, zwingt dazu, alle kampffähigen Kräfte der Arbeiterklasse trotz dieser Verschiedenheiten ihrer Kampfbedingungen, der durch diese Kampfbedingungen bestimmten Praxis der Arbeiterbewegung und der aus dieser Praxis hervorgehenden Ideologien zusammenzuführen und miteinander zu alliieren.

Die Spaltung der Arbeiterklasse durch den Weltkrieg und durch den gegensätzlichen Verlauf der russischen Revolution und der mitteleuropäischen Revolutionen hat die reformistische Arbeiterbewegung und den revolutionären Sozialismus einander als polare Gegensätze entgegengestellt. Die verhängnisvollen Wirkungen der Spaltung hat die Arbeiterklasse erlebt. Faschismus und Kriegsgefahr drängen zur Überwindung der Feindschaft zwischen den beiden Heerlagern der Arbeiterklasse. Aber der integrale Sozialismus, der die beiden großen Richtungen der Arbeiterbewegung in sich aufnehmen soll, kann den Gegensatz zwischen reformistischer Arbeiterbewegung und revolutionärem Sozialismus, der in den Daseinsbedingungen der Arbeiterklasse selbst begründet ist, nicht aufheben. Er kann nur und er muß den revolutionären Sozialismus in ein anderes Verhältnis zur reformistischen Arbeiterbewegung, die reformistische Arbeiterbewegung in ein anderes Verhältnis zum revolutionären Sozialismus setzen als dem des polaren Gegensatzes. In der Veränderung des Verhältnisses zwischen beiden ist heute die Leistung zu vollbringen, die die ursprüngliche theoretische Leistung des Marxismus gewesen und die seine ständige praktische Aufgabe geblieben ist.

Der Marxismus hat schon in seinen ersten Anfängen das Problem zu lösen versucht, in welchem Verhältnis zielbewußte revolutionäre Sozialisten zu Arbeiterparteien, die den Klas-senkampf der Arbeiterklasse um ihre Tagesinteressen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft führen, stehen sollen. Das "Kommunistische Manifest" sagt darüber: "Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen. Sie steilen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen. Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des Gesamtproletariats hervorheben und zur Geltung bringen, andererseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten. Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus."

Das Kommunistische Manifest beschreibt in dieser Weise das Verhältnis, in das sich die zielbewußten revolutionären Sozialisten zu den Arbeiterparteien seiner Zeit setzen sollten;

also zu den Chartisten in England, zu den revolutionären, um die Demokratie kämpfenden Gruppen und Klubs am Vorabend der Februarrevolution in Frankreich. - zu Arbeiterparteien, die noch nicht um die sozialistische Gesellschaftsordnung, die vorerst nur um die Demokratie und um soziale Reformen kämpften. Die Taktik, die das Kommunistische Manifest den revolutionären Sozialisten empfahl, ist natürlich nur dort anwendbar, wo es schon Arbeiterparteien gibt, die zwar noch nicht revolutionär-sozialistisch sind, aber innerhalb deren revolutionäre Sozialisten wirken können.

Die bolschewistische Partei ist unter anderen Umständen entstanden. Am Anfang des Jahrhunderts gab es in dem zarischen Rußland noch keine Arbeiterpartei und konnte es noch keine geben. Die bolschewistische Partei entstand als eine illegale Partei "professioneller Revolutionäre", gegen die Massen konspirativ abgedichtet, im Kampfe gegen die zarische Staatsgewalt zentralistisch geführt. Heute entstehen in den faschistischen Ländern ähnliche Parteigebilde. Es ist dies der spezifische Parteitypus der Illegalität. Aber der gewaltige geschichtliche Erfolg der bolschewistischen Partei in Rußland hat dazu verteilet, ähnliche Parteigebilde auch in den demokratischen Ländern zu schaffen, in denen es große legale, reformistische Arbeiterparteien gibt. So haben die Kommunisten seit 1918 gerade das getan, was das Kommunistische Manifest abgelehnt hat: Sie haben besondere Parteien gegenüber den anderen Arbeiterparteien gebildet. Sie haben besondere Prinzipien aufgestellt, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen. Sie haben damit die Arbeiterbewegung gespalten. Die verhängnisvollen Folgen der Spaltung haben wir kennengelernt.

Die Spaltung kann in den demokratischen Ländern, in denen legale Massenparteien der Arbeiterklasse bestehen, und sie kann in der Internationale, die auch die legalen Massenparteien der demokratischen Länder mit umfassen muß, nicht anders überwunden werden als durch die Rückkehr zu dem Parteiprinzip, zu dem Organisationsgedanken des Kommunistischen Manifests: zu dem Prinzip, daß sich die revolutionären Sozialisten nicht als besondere Partei von den Arbeiterparteien trennen, sondern innerhalb der großen Massenparteien der Arbeiterklasse revolutionäre sozialistische Ideen verfechten, revolutionäre sozialistische Kaders erziehen sollen in der Überzeugung, daß diese Ideen die großen Massenparteien der Arbeiterklasse erobern, diese revolutionären Kaders die Führung der ganzen großen Massenparteien der Arbeiterklasse an sich reißen werden können, sobald erst geschichtliche Ereignisse die Massen der Arbeiterklasse für revolutionäre Ideen empfänglich machen, der Führung durch revolutionäre Kaders zutreiben werden.

Der Reformismus ist nicht eine bürgerliche Ideologie, nicht "die ideologische Versklavung der Arbeiter durch die Bourgeoisie". Er ist die Ideologie der Arbeiterklasse auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung. Der Marxist, der begriffen hat, daß die reformistische Ideologie und Taktik die notwendige, die unvermeidliche Entwicklungsphase des proletarischen Klassenbewußtseins unter bestimmten Entwicklungsbedingungen, auf einer bestimmten Entwicklungsstufe ist. kann nicht glauben, daß er die reformistische Ideologie der Massen überwinden, die reformistische Taktik der Massenparteien vereiteln könne, solange die Entwicklungsbedingungen selbst, aus denen diese Ideologie quillt und der dieser Taktik entspricht, nicht überwunden sind. Er wird daher seine Aufgabe innerhalb der großen Arbeiterparteien nicht darin erblicken, Zellen zu bilden, die die Führung dieser Arbeiterparteien an sich reißen oder diese Arbeiterparteien spalten sollen, nicht darin, sich taktischen Erfordernissen des Kampfes um die Demokratie oder um soziale Reformen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu widersetzen, nicht darin, die Arbeiterklasse zu einer Taktik der "revolutionären Gymnastik" zu verleiten, die zu Niederlagen führt und dadurch die Arbeiterklasse schwächt. Aber er hat "vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus". Das heißt: Er weiß, daß jeder vorübergehenden ökonomischen Konjunktur, die den Arbeitern die Möglichkeit erfolgreicher Kämpfe bietet, die Krise folgt, die die Erfolge dieser Kämpfe wieder zerstört. Er weiß. daß gerade die Erfolge, die die Arbeiterklasse auf dem Boden der Demokratie erringt, die Kapitalistenklasse dem Faschismus zutreiben. Er weiß, daß die Demokratie gerade dann, wenn das Proletariat daran ist, in ihr und durch sie die Macht zu erobern, in höchste Gefahr gerät, von der kapitalistischen Reaktion gesprengt zu werden. Er weiß, daß der Weg zu einer vollkommenen, nicht mehr vom Kapital beherrschten, nicht mehr durch die Klassenkämpfe gefährdeten Demokratie durch die Diktatur des Proletariats hindurchführt, das heißt: durch eine Macht des Proletariats, die, welche Formen immer sie annehme, stark und dauerhaft genug sein muß. die Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in die sozialistische zu vollziehen. Er weiß, daß nur die Diktatur des Proletariats, nicht die Reformarbeit der bürgerlichen Demokratie die Arbeiterklasse von der Ausbeutung und der Arbeitslosigkeit, die Gesellschaft von faschistischer Barbarei, die Nation von Fremdherrschaft, die Menschheit vom Krieg befreien kann. Er teilt also nicht die Illusionen, die in den Massenparteien der Arbeiterklasse aus den Erfolgen ihrer Kämpfe entstehen. Er hat trotzdem "keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen". Das heißt: er kämpft den Kampf der reformistischen Arbeiterparteien um jede noch so kleine Reform innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft mit Einsatz seiner ganzen Kraft mit. Er vermißt sich nicht, "besondere Prinzipien aufzustellen, die die proletarische Bewegung modeln sollen". Das heißt: er erkennt die taktischen Erfordernisse des Kampfes um die Reformen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft an und widersetzt sich den taktischen Mitteln nicht, die dieser Kampf erfordert. Aber er vertritt "in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung". Das heißt: wenn er die Kämpfe der reformistischen Massenparteien mitkämpft und den Notwendigkeiten der reformistischen Entwicklungsphase sich fügt, so sieht er doch auf dieser Entwicklungsphase schon ihre Begrenzung, sieht er in diesen Ländern heute schon, in jenen morgen die Entwicklung über diese Stufe hinausstürmen, die Kampfbedingungen umwälzen, den Bruch mit den reformistischen Ideologien, Illusionen, Kampfmethoden erzwingen. Er überwindet die räumliche Begrenzung, indem er die Arbeiterklasse der demokratischen Länder, in denen die Arbeiterbewegung noch auf der reformistischen Entwicklungsstufe verharrt, die revolutionären Notwendigkeiten der faschistischen Länder und die revolutionäre Leistung des Landes der Diktatur des Proletariats verstehen lehrt. Er überwindet die zeitliche Begrenzung, indem er die Arbeiterklasse dort, wo ihre Daseins- und Kampfbedingungen noch den Reformismus vorherrschend erhalten, verstehen lehrt, daß morgen oder übermorgen geschichtliche Ereignisse auch sie auf eine andere Bahn, auf die Bahn des revolutionären Kampfes zwingen werden. Der Marxismus, der auf diese Weise innerhalb reformistischer Arbeiterparteien und innerhalb einer von reformistischen Arbeiterparteien geführten Internationale revolutionäre Ideen zu verfechten und revolutionäre Kaders zu erziehen die Aufgabe hat. überwindet damit die einseitigen, bornierten, einander undialektisch als unvermittelte, unvereinbare Gegensätze gegenübergestellten Auffassungen, die sich im Gefolge der Spaltung in beiden Heerlagern der Arbeiterklasse entwickelt und einander entgegengesetzt haben. Er begreift den Reformismus als die Anpassung der Arbeiterbewegung an eine bestimmte Entwicklungsstufe, als das Produkt einer bestimmten Entwicklungsstufe, als das notwendige Resultat einer bestimmten Entwicklungsstufe. Aber gerade weil er ihn als das Resultat einer bestimmten Entwicklungsstufe versteht, versteht er, daß seine Notwendigkeit nur eine transitorische, nur eine vorübergehende Notwendigkeit ist, die überwunden werden muß, sobald die Entwicklungsstufe, der er entspricht, selbst überwunden wird. Und setzt er sich die Aufgabe, auf der reformistischen Entwicklungsstufe selbst schon die revolutionären Ideen zu entwickeln und zu verbreiten, die revolutionären Kaders zu erziehen, die sie überwinden werden. In dieser Konzeption erhebt er sich über die Gegensätze der reformistischen Arbeiterbewegung und des revolutionären Sozialismus, wird er zu einem integralen, die gegensätzlichen Auffassungen in sich überwindenden Sozialismus und damit zur integrierenden Kraft innerhalb der gespaltenen Arbeiterbewegung.

Er hat dem revolutionären Sozialismus das große Erbe der Kämpfe um die Demokratie, das Erbe des demokratischen Sozialismus zu übermitteln: die hohe Schätzung des unersetzlichen Kulturwertes der individuellen Rechtssicherheit, der geistigen Freiheit, der kollektiven Selbstbestimmung, der Menschlichkeit; das Erbe des Bewußtseins der Kulturverantwortung für die Erhaltung, Wiederherstellung. Rettung dieser durch die Entwicklung der Klassengegensätze bedrohten und zerstörten Kulturerrungenschaften des bürgerlichen Zeitalters. Er hat dem reformistischen Sozialismus das große Erbe der proletarischen Revolutionen zu vermitteln: die Erkenntnis, daß nicht Flickarbeit an der kapitalistischen Gesellschaft, sondern nur ihre Überwindung, nur die proletarische Revolution und die aus ihr hervorgehende Diktatur des Proletariats die Menschheit von Ausbeutung, Arbeitslosigkeit, Krisen, Faschismus und Krieg befreien können. Er muß darum die große geschichtliche, soziale, kulturelle Bedeutung der bürgerlichen Demokratie, die das Resultat Jahrzehnte langer, sieghafter Klassenkämpfe der Arbeiterklasse und der fruchtbare Boden ihres wirtschaftlichen, sozialen, geistigen Wachstums gewesen ist, würdigen. Aber er muß zugleich verstehen, daß die bürgerliche Demokratie trotz alledem immer noch nur eine Form, wenn auch die höchste Form der Klassenherrschaft der von der Kapitalistenklasse geführten Bourgeoisie ist. Er muß die Arbeiten-nassen verstehen lehren, daß nur eine zeitweilige Diktatur des Proletariats die ökonomische Macht und die ideologischen Herrschaftsmittel der kapitalistischen Bourgeoisie endgültig zerstören kann, um auf der Grundlage einer neuen Gesellschaftsordnung die Demokratie auf höherer Stufe, in vollkommenerer Gestalt wieder herzustellen und damit jene großen Kulturerrungenschaften des bürgerlichen Zeitalters der Menschheit als unverlierbaren Besitz zu sichern. Er muß in dieser Geschichtskonzeption das Ethos des demokratischen und das Pathos des revolutionären Sozialismus zu höherer Einheit vereinigen.

Er muß praktisch vorerst für die Überwindung der Spaltung des Proletariats wirken. Wo große sozialistische und kommunistische Parteien nebeneinander bestehen, muß er vorerst Aktionsgemeinschaften, Kampfbündnisse zwischen ihnen anstreben. Wo neben großen reformistischen Arbeiterparteien nur kleine kommunistische Sekten bestehen, mag er den Eintritt der Kommunisten in die großen Arbeiterparteien, ihre Aufnahme in die großen Arbeiterparteien fördern. Aber die Einheitsfront darf ihm nicht zum bloßen Schlagwort, die Einheit nicht zum Fetisch werden. Er darf nicht der Illusion verfallen, daß die bloße Addition der gespaltenen Kräfte des Proletariats genügen könnte, die Klassenkraft zu vergrößern;

nicht dem gefährlichen Wahn, daß eine organisatorische Vereinigung dauerhaft sein könnte, wenn sie nicht ein Mindestmaß an geistiger Einheit herbeiführt; nicht der Selbsttäuschung darüber, daß die Vereinigung unter Umständen Gegenwirkungen im Lager der Bourgeoisie hervorrufen kann. die breite und starke bürgerliche Massen dem Faschismus in die Arme werfen und dadurch der Arbeiterklasse höchst gefährlich werden können. Er muß der bornierten, in den Gegensatz zwischen den beiden Lagern der Arbeiterklasse verbissenen Ablehnung jeder Einheitsfront auf der einen Seite, der naiven, die realen Gegensätze verkennenden Schwärmerei für die Einheitsfront auf der anderen die Erkenntnis entgegensetzen, daß die Arbeit an der Einheitsfront vor allem eine ideologische Aufgabe ist: die Aufgabe, jenes Mindestmaß gemeinsamer theoretischer Erkenntnis und gemeinsamer politischer Strategie zu entwickeln, das allein die in fünfzehnjährigem Kampfe entwickelten Gegensätze überwinden und dadurch eine dauerhafte und handlungsfähige Einheitsfront erst möglich machen kann.

Er muß die spießbürgerlichen, vulgär-demokratischen Vorurteile gegen die Sowjetunion, die immer noch innerhalb des reformistischen Sozialismus bestehen, bekämpfen. Er muß die von den reformistischen Arbeiterparteien geführten Arbeitermassen erkennen lehren, daß sich in der Sowjetunion eine sozialistische Gesellschaftsordnung entwickelt, die in gewaltigem, schnellem Wachstum die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus erweist. Er muß alle Erfolge dieser Entwicklung zur Propaganda der sozialistischen Gesellschaftsordnung ausnützen. Er muß auch die reformistischen Arbeiterparteien verstehen lehren, daß die sozialistische Idee in der ganzen Welt unwiderstehliche Kraft erlangen wird, sobald die Sowjetunion, die jetzt schon durch die Tat erwiesen hat, daß die sozialistische Gesellschaft die Arbeitslosigkeit nicht kennt, durch die Tat erweisen wird, daß die sozialistische Gesellschaft das ganze Volk zu höherer Lebenshaltung führen, auf höheres Kulturniveau heben kann als selbst die höchstentwickelte kapitalistische Gesellschaft. Er muß die Arbeitermassen verstehen lehren, daß der Sieg des Sozialismus in der Welt von der Behauptung und Entwicklung des Sozialismus in der Sowjetunion abhängig ist; daß die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Sowjetunion den Sozialismus aus einer abstrakten Idee in ein werbekräftiges konkretes Vorbild verwandelt; daß darum die Sowjetunion in den nahenden sozialen Erschütterungen das Konzentrationszentrum sein muß, um das sich die Arbeiterklasse der ganzen Welt scharen, das die Arbeiterklasse der ganzen Welt mit ihrer ganzen Kraft verteidigen, dessen Sieg die Arbeiterklasse der ganzen Welt zum Siege führen muß. In einer Zeit, in der die Arbeiterklasse der kapitalistischen Länder die schwersten Niederlagen erlitten hat und von schwersten Gefahren bedroht ist, muß der revolutionäre Marxismus den Glauben der Massen an die sozialistische Idee, ihr Vertrauen zu ihrer Kraft, ihre Hoffnung auf die Befreiung stärken, indem er ihnen zeigt: Dort. auf dem weiten Gebiet von der Ostsee und vom Schwarzen Meer bis zum Stillen Ozean, wird eine sozialistische Gesellschaft zur Wirklichkeit. Dort wächst eine gewaltige sozialistische Macht, mit der im Bunde ihr. die Arbeiter der Welt, den Kapitalismus zerschlagen, die sozialistische Gesellschaft verwirklichen, die nationalen Grenzen überwinden werdet in der kommenden Internationalen Föderation sozialistischer Gemeinwesen.

Aber gerade weil in der Geschichtskonzeption eines integralen Sozialismus unserer Zeit die sieghafte Entwicklung der Sowjetunion eine so bedeutende Stelle einnehmen muß, gerade weil wir überzeugt sind, daß die Aussichten der Kämpfe der Arbeiterklasse der ganzen Welt durch nichts stärker beeinflußt werden als durch die innere Entwicklung der Sowjetunion, gerade deshalb müssen wir nicht nur die Arbeiterklasse der ganzen Welt um die Sowjetunion scharen, sondern auch die innere Entwicklung der Sowjetunion selbst zu beeinflussen versuchen. Der Prozeß der Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische, der sich in der Sowjetunion vollzieht, wird erst vollendet sein, wenn die Diktatur, die altein diesen Prozeß in Gang setzen und im Gang erhalten konnte, abgebaut und durch die Volksmassen selbst auf der Basis der wiederhergestellten individuellen Rechtssicherheit, der vollen geistigen Freiheit, der unmittelbaren kollektiven Selbstbestimmung zu Herren ihres Arbeits-, Lebens- und Kulturprozesses machen wird. Wir haben um unseres Kampfes gegen den Faschismus willen, um der großen Kulturerrungenschaften der Freiheit willen, die der Faschismus bedroht und die der Sozialismus auf der neuen Basis einer höheren Gesellschaftsordnung, vollkommener als in der bürgerlichen Demokratie, wiederherstellen muß. wir haben um des Sozialismus willen die Pflicht, die Entwicklung zur sozialistischen Demokratie in der Sowjetunion zu fördern. Wir können uns darum mit der bloßen Apologie der Sowjetunion gegen ihre kapitalistischen Feinde und mit der Propaganda ihrer Leistung in den Arbeitermassen nicht bescheiden. Wir können uns des Rechtes freimütiger Kritik an Maßregeln der Machthaber der Sowjetunion nicht begeben. Die Entwicklung der Sowjetunion selbst bedarf der Entwicklung einer sozialistischen öffentlichen Meinung in der Welt, die die ganze weltgeschichtliche Größe ihrer Leistung würdigt, die die geschichtliche Funktion der Sowjetdiktatur für die Entwicklung des Sozialismus in der Welt begreift, die die Kräfte der Arbeiterklasse der Welt für die Sowjetunion zu mobilisieren und um die Sowjetunion zu alliieren sucht, die aber zugleich, von den jeweiligen Machthabern der Sowjetunion unabhängig, freimütig ihre Maßregeln kritisiert, wenn sie im Widerspruch zu der geschichtlichen Aufgabe der fortschreitenden Demokratisierung des Sowjetregimes stehen, und freundschaftlich zu allen Maßregeln ermutigt und mahnt, die die fortschreitende Demokratisierung des Sowjetregimes fördern. Indem der integrale Sozialismus auf diese Weise die Sache der proletarischen Revolution in der Sowjetunion zur eigensten Sache des internationalen Proletariats zu machen sucht, erzieht er das Proletariat der kapitalistischen Länder zur Bereitschaft zur sozialen Revolution. die seine eigene Sache sein wird. Die ungeheure Steigerung der Staatsmacht, vor allem die ungeheure Stärkung der bewaffneten Gewalt des Staates durch die Entwicklung der modernen Technik und Ökonomie läßt es unwahrscheinlich erscheinen, daß das Proletariat in Friedenszeiten in irgend einem modernen Staat die Kraft erlangen könnte, die Gewaltmaschine des kapitalistischen Staates zu zerbrechen und auf ihren Trümmern seine Diktatur aufzurichten. Eine sieghafte proletarische Revolution, welche bis zur Aufrichtung der Diktatur des Proletariats fortschreiten könnte, wird in modernen kapitalistischen Staaten kaum anders möglich sein als im Gefolge eines Krieges. So gewiß der Sozialismus alles daransetzen muß, den Krieg so weit als möglich hinauszuschieben, so gewiß muß er die Arbeiterklasse zu der Bereitschaft erziehen, die Erschütterung der kapitalistischen Gesellschaft, des kapitalistischen Staates, des staatlichen Gewaltapparats durch einen Krieg zur Eroberung der Staatsmacht und damit zur Befreiung des Proletariats auszunützen.

Im Jahre 1914 haben die Arbeiterparteien der Krieg führenden Staaten mit ihren Regierungen den Burgfrieden geschlossen. Sie haben den revolutionären Befreiungskampf des Proletariats gerade in dem Augenblick eingestellt, in dem die kapitalistische Gesellschaft und die kapitalistischen Staaten durch den Krieg in die schwerste Erschütterung geraten mußten. Es ist zu befürchten, daß sich dieses Schauspiel am Anfang eines neuen großen Krieges wiederholen wird.

Wenn große Nationen in das blutige Ringen gegeneinander eintreten, wenn sie auf den Schlachtfeldern um ihre Existenz ringen, dann erlangen die nationalen Leidenschaften eine Gewalt, der auch breite proletarische Massen keinen Widerstand zu leisten vermögen. Dann werden Nationalbewußtsein und Nationalgefühl stärker als Klassenbewußtsein und Klassengegnerschaft. Dann geraten auch die großen proletarischen Massenparteien unter den Druck der nationalen Massenleidenschaften.

Erst im Verlaufe des Krieges, erst wenn die Leiden und Opfer des Krieges immer schwerer werden, geraten die Massen allmählich in eine dem Kriege feindliche Stimmung. Erst dann werden sie empfänglich für die Mahnung des revolutionären Sozialismus, die Erschütterung der kapitalistischen Gesellschaft durch den Krieg zum Sturze des Kapitalismus auszunützen.

Niemand hat die Entwicklung der Massenstimmungen von den patriotischen Leidenschaften des Kriegsbeginnes über das allmähliche Erstarken des Widerstandes gegen den Krieg bis zur Revolution gegen die den Krieg führende Staatsgewalt vollkommener erkannt als Lenin. Im Jahre 1922, vor dem Friedenskongreß im Haag hat er "Bemerkungen zur Frage der Aufgaben unserer Delegation im Haag" geschrieben, die viel deutlicher als seine für die Öffentlichkeit bestimmten Schriften diese Entwicklung der Massenstimmungen darlegen. Er lehnte da die Phrase "Wir werden auf den Krieg mit dem Generalstreik oder mit der Revolution antworten", als ein Geschwätze ab, mit dem sich "nur die dümmsten oder hoffnungslos verlogene Leute" bescheiden könnten. Er legte dar, "wie ohnmächtig die gewöhnliche Organisation der Arbeiter, und würde sie sich noch so revolutionär nennen, angesichts des hereinbrechenden Krieges ist". Er erinnerte daran, wie es zu Beginn des Weltkrieges war und "warum es nicht anders sein konnte". Er stellte fest, daß zu Beginn des Krieges "die gewaltige Mehrheit der Werktätigen die Frage der Verteidigung des Vaterlandes unvermeidlich im Interesse der Bourgeoisie ihres Landes beantwortet". Er zog daraus den Schluß, "die einzig mögliche Methode des Kampfes gegen den Krieg" während des Krieges selbst sei "die Erhaltung oder Bildung einer illegalen Organisation zu langdauernder Arbeit gegen den Krieg."1 [1 Lenin, Sobranie Sotschinenij, XX, 2. Moskwa 1927, p. 529 ss.]

Aber nicht nur die Tatsache, daß die Massen am Anfang des Krieges den nationalen Leidenschaften erliegen, ruft die Gefahr hervor, daß die Arbeiterparteien im Kriege neuerlich den Burgfrieden mit den Regierungen ihrer Länder schließen. Neue politische Tatsachen verstärken diese Gefahr. Wenn der Völkerbund einen Staat als Angreifer brandmarkt und die anderen Staaten zu Sanktionen gegen den Angreifer auffordert oder ermächtigt, so kann der Krieg gegen die angreifende Macht den Arbeiterparteien der Länder, die diesen Krieg führen, als ein heiliger Krieg für die Durchsetzung des Völkerrechtes gegen rechtswidrigen Friedensbruch erscheinen. Dies kann sie dazu verleiten, sich in den Dienst der Kriegführung zu stellen und jeden Kampf gegen die kapitalistischen Regierungen ihrer Länder während des Krieges einzustellen. Wenn demokratische Länder gegen faschistische Mächte Krieg führen, so kann die Feindschaft des Proletariats gegen den Faschismus die Arbeiterparteien der demokratischen Länder zum Burgfrieden mit ihren Regierungen verleiten. Wenn kapitalistische Staaten im Bunde mit der Sowjetunion in den Krieg gehen, so kann der Burgfrieden in den kapitalistischen Ländern seine Rechtfertigung in dem Interesse des Proletariats an der Verteidigung der Sowjetunion suchen. So ist die Gefahr, daß die großen Arbeiterparteien im Kriege abermals zu Organen der Kriegführung kapitalistischer Regierungen werden, heute nicht kleiner, sondern größer als 1914.

Angesichts dieser Gefahr muß der revolutionäre Sozialismus den Massen verständlich zu machen versuchen, daß sie nach dem Kriege abermals so furchtbare und noch furchtbarere Krise, so furchtbare und noch furchtbarere Zeiten der Arbeitslosigkeit und der Massenverelendung durchleben, abermals von aus dem Kriege hervorgehenden bestialischen Mächten des Faschismus niedergeschlagen werden, abermals neuen furchtbaren Kriegen entgegengehen werden, wenn sie nicht die Gelegenheit ausnützen, die der Krieg ihnen bietet und wahrscheinlich nur der Krieg ihnen bieten kann: die Gelegenheit, die Kapitalsherrschaft zu stürzen.

Ob der revolutionäre Marxismus diese Aufgabe in der Kriegszeit nur mittels illegaler Organisationen erfüllen kann, wie Lenin glaubte, oder ob er sie legal versehen kann, ob er sie innerhalb der legalen Massenparteien versehen kann oder aus ihnen hinausgedrängt wird, in jedem Falle wird sein Wort am Anfang des Krieges nur das Gehör einer Minderheit der Arbeiterklasse, wird es aber im Vertäut des Krieges das Gehör immer breiterer Massen finden. Auf diese Weise wird der revolutionäre Marxismus im Verlaufe des Krieges allmählich zum Führer der durch die Leiden und Opfer des Krieges revolutionierten Massen werden.

(m Weltkrieg haben die "Zimmerwalde^, die auf der Zimmerwalder Konferenz vereinigten oppositionellen Minderheiten der Arbeiterparteien, gegen die Burgfriedenspolitik ihrer Parteien gekämpft. Aber der Kampf, den der revolutionäre Marxismus in einem neuen Kriege gegen die abermals drohende Burgfriedenspolitik der großen Arbeiterparteien der demokratischen Länder zu führen haben wird, wird nicht ganz identisch sein mit dem Kampfe, den die Zimmerwalder im letzten Kriege zu führen hatten. Denn die Stellung des Sozialismus in einem neuen Krieg wird modifiziert durch zwei geschichtliche Tatsachen: Die eine ist der Sieg des Faschismus in dem großen Deutschen Reich. Die andere ist die sieghafte Entwicklung einer Gesellschaft werdenden Sozialismus in der Sowjetunion.

Demokratische Staaten kämpfen gegen Hitler-Deutschland. Es kann der Arbeiterklasse nicht gleichgültig sein, wer in diesem Kampfe siegt. Denn Hitler-Deutschlands Sieg würde die Faschisierung Europas bedeuten. Die Bourgeoisie und das Proletariat der demokratischen Länder haben also zunächst ein gemeinsames Interesse: über Hitler-Deutschland zu siegen. Und dennoch müssen und werden die Kriegsziele der Bourgeoisie der demokratischen Länder denen des Proletariats dieser Länder entgegengesetzt sein. Di6 Bourgeoisie will Deutschland schlagen, um das Dritte Reich zu zerstückeln und das deutsche Volk zu knechten und auszubeuten. Aber sie will nicht eine proletarische Revolution, die ihr selbst gefährlich würde, in Deutschland zum Siege kommen lassen. Sie wird, wenn der Sieg ihrer Waffen die Revolution in Deutschland entfesselt, die deutsche Revolution ebenso innerhalb der bürgerlichen Schranken zu halten suchen, wie sie es 1918 und 1919 getan hat. und gegen sie ihre militärischen und ökonomischen Machtmittel gebrauchen wollen, wenn sie diese Schranken sprengt, wie sie 1917 bis 1919 ihre Machtmittel gegen die proletarische Revolution in Rußland und in Ungarn gebraucht hat. Das Proletariat der demokratischen Länder dagegen wird Hitler-Deutschland zu schlagen suchen, gerade um die proletarische Revolution in Deutschland zu entfesseln, um ihr sofort einen Frieden ohne alle offenen und versteckten Annexionen und Kontributionen zu bewilligen, um sich mit ihr zu alliieren.

Kapitalistische Staaten sind im Kriege der Sowjetunion verbündet. Steht die Sowjetunion im Krieg, so hängt das Schicksal des Sozialismus der Welt davon ab, daß die Sowjetunion siegt. Ihre Niederlage würde die größten Hoffnungen des Proletariats für Jahrzehnte zerstören. Ihr Sieg wird den Sozialismus in Europa und in Asien unwiderstehlich machen. Um sie muß sich daher das ganze Weltproletariat scharen. Wer sich im Kriege gegen sie stellt, der besorgt die Geschäfte der kapitalistischen Konterrevolution. Der ist unser Todfeind. Daß kapitalistische Staaten, die an ihrer Seite, die im Bunde mit ihr kämpfen, im Kriege siegen, ist ein Interesse des Weltproletariats, weil es ein Interesse der Sowjetunion ist. So haben Bourgeoisie und Proletariat der mit der Sowjetunion verbündeten Staaten zunächst ein gemeinsames Interesse: das Interesse zu siegen. Und dennoch sind ihre Kriegsziele entgegengesetzt. Denn nichts ist gewisser, ats daß sich die Kapitalistenklasse der mit der Sowjetunion verbündeten Länder am Tage nach dem errungenen Siege gegen die Sowjetunion wenden muß, weil ihr Sieg zur Lebensgefahr für die Kapitalsherrschaft in der ganzen Welt wird. Nichts ist gewisser, als daß sich das Proletariat dieser Wendung gegen den Bundesgenossen von gestern mit seiner ganzen Kraft widersetzen, sich mit der Sowjetunion gegen die Kapitalistenklasse seines Landes wird verbünden müssen.

So werden im Falle eines neuen großen europäischen Krieges die Kriegsziele der Bourgeoisie den Kriegszielen des Proletariats auch in den kapitalistischen Ländern, die gegen Hitler-Deutschland, auch in den kapitalistischen Ländern, die im Bunde mit der Sowjetunion kämpfen, entgegengesetzt sein. Die Arbeiterklasse dieser Länder wird ihre Kriegsziele nur durchsetzen, wenn es ihr gelingt, im Verlaufe des Krieges selbst die Staatsmacht zu erobern, um dem Krieg ihre Ziele zu setzen, um den Krieg, den kapitalistische Regierungen dieser Länder als einen Krieg für imperialistische Ziele führen, in einen Revolutionskrieg gegen den Faschismus und für die Verteidigung der Sowjetunion zu verwandeln und damit auf den Schlachtfeldern den Sieg des Sozialismus zu erkämpfen.

In der Sowjetunion bedingungs- und vorbehaltlose Unterstützung der Verteidigung des revolutionären Staates; in Hitler-Deutschland und in allen mit Hitler-Deutschland verbündeten, in allen gegen die Sowjetunion kämpfenden Staaten Revolution gegen den Krieg; in den gegen Hitler-Deutschland kämpfenden, in den mit der Sowjetunion verbündeten Ländern Unterstützung der Kriegführung, soweit sie notwendig ist, um die Sowjetunion zu verteidigen und Hitler-Deutschland zu schlagen, aber diese Unterstützung nicht in der Gefolgschaft der Bourgeoisie, sondern mit dem entschlossenen Willen, selbst die Wechselfälle des Krieges auszunützen, um im Verlaufe des Krieges die Kriegführung der Bourgeoisie zu entreißen, dem Proletariat die Macht zu erobern, dem Krieg die Ziele des Proletariats zu setzen: Das sind die Aufgaben, zu denen der revolutionäre Marxismus während des Krieges die Arbeitermassen wecken, erziehen, mobilisieren muß, in der "langdauernden Arbeit, von der Lenin gesprochen hat.

Eine solche revolutionäre Kooperation der Arbeiterparteien auf beiden Seiten der Schützengräben erfordert die Überwindung aller eng nationalen Gesichtspunkte und Wertungen. Sie erheischt internationales Denken, das in der Stunde weltgeschichtlicher Entscheidung alle nationalen Sonderinteressen dem Menschheitsinteresse des Weitsiegs des Sozialismus unterordnet. Solches internationales Denken kann nur entwickelt werden in einer die Arbeiter der Welt umfassenden, sie trotz aller Verschiedenheiten ihrer Daseins- und Kampfesbedingungen, ihrer Traditionen und Ideologien zu zielbewußter Kooperation erziehenden Internationale. Wir haben heute eine solche Internationale nicht. Die Sozialistische Arbeiter-Internationale umfaßt nicht das junge Proletariat der Sowjetunion, das Proletariat der größten revolutionären Tradition und der größten revolutionären Leistung. Die Kommunistische Internationale umfaßt nicht die großen, mächtigen, die Traditionen eines Jahrhunderts proletarischer Kämpfe verkörpernden Massenparteien der Arbeiterklasse Westeuropas. Der integrale Sozialismus kann sich heute nur innerhalb der Sozialistischen Arbeiter-Internationale entwickeln. Denn nur ihr loses Gefüge, das innerhalb ihres Rahmens den verschiedensten sozialistischen Strömungen Freiheit der Werbung und der Aktion gibt, gibt ihm die Möglichkeit, in ihr seine Anschauungen zu verfechten; in der Kommunistischen Internationale, die keine "Abweichung" von ihren Glaubenssätzen duldet, hat eine Anschauung, die die erstarrten Gegensätze zwischen dem Sozialismus und dem Kommunismus zu überwinden sucht, keine Möglichkeit, sich zu verfechten und durchzusetzen. Aber wenn der integrale Sozialismus darum heute nur innerhalb der Sozialistischen Arbeiter-Internationale wirken kann, so muß er doch den Gegensatz zwischen den beiden Internationalen zu überwinden suchen. Er wird überwunden werden, wenn die in der Sozialistischen Arbeiter-Internationale vereinigten Arbeiterparteien in einem neuen Kriege ihre ganze Kraft für die Verteidigung der Sowjetunion mobil machen, den Krieg zur Eroberung der Staatsmacht ausnützen und dadurch im Feuer des Krieges selbst eine unzerstörbare Allianz mit den arbeitenden Massen der Sowjetunion schließen werden. Hat der letzte große Krieg das Weltproletariat gespalten, so muß ein neuer Weltkrieg es einigen und damit den integralen Sozialismus verwirklichen.

Die Einigung wird allerdings nicht am Tage des Kriegsbeginns, der die Massen mit den stärksten patriotischen Leidenschaften erfüllt, sie wird erst im Verlaufe der die Massen allmählich revolutionierenden Prozesse während des Krieges, sie wird erst als Resultat der "langdauemden Arbeit", die der revolutionäre Marxismus während des Krieges zu leisten hat, zur Wirklichkeit werden. Sie wird zur Wirklichkeit werden nur im Kampfe der Geister im Verlaufe des Krieges. Es ist wahrscheinlich, daß einzelne Arbeiterschichten und einzelne Führergruppen, die, völlig der reformistischen Entwicklungsphase angepaßt, sich auf die durch den Krieg gestellten revolutionären Aufgaben nicht umzustellen vermögen, abseits bleiben werden, wenn der Krieg die Massen des Proletariats revolutioniert. So kann und wird wahrscheinlich gerade der Krieg zeitweilig neue Abspaltungen oder gar neue Spaltungen der proletarischen Kräfte hervorrufen. Aber die Demarkationslinien innerhalb des Proletariats werden dann ganz anders verlaufen als heute. Das Feuer des Krieges wird aus dem Lager der Sozialistischen Arbeiter-Internationale und aus dem Lager der Kommunistischen Internationale, aus den heute noch reformistischen Arbeiterparteien des Westens und aus den revolutionären werktätigen Massen des Ostens alles zusammenschweißen, was, nicht in den Vorurteilen der Vergangenheit erstarrt, fähig und entschlossen sein wird, die revolutionären Aufgaben zu erfüllen, vor die jeder neue Krieg die Menschheit stellen muß, zusammenschweißen zu einer integralen revolutionären sozialistischen Kraft, die der Menschheit Führerin sein wird zur Erkämpfung einer integral sozialistischen Gesellschaft.





Aus: Michael Franzke / Uwe Rempe (Hrsg.) - Linkssozialismus, Texte zur Theorie und Praxis zwischen Stalinismus und Sozialreformismus, Leipzig 1998, ISBN 3-932725-36-0, S. 283-295